Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien fand traditionellerweise wieder die Prämierung der besten Kurzgeschichten im Rahmen des Schreibwettbewerbs der 12.- Klassen statt.
Mehrere Wochen hatten sich die 12.-Klässler*innen im Deutschunterricht mit Kurzgeschichten befasst. Zahlreiche Kurzgeschichten haben sie gelesen und analysiert, bevor sie schließlich in den Dalton-Stunden und zuhause ihre eigenen Kurzgeschichten verfasst haben. Bei der Themenwahl waren sie dabei ganz frei. Klassenintern haben die Schüler*innen aller 12. Klassen ihre drei Favoriten gewählt, ohne dabei die Autor*innen der Geschichten zu kennen. Diese Vorauswahl haben sich die Deutschlehrer*innen Anne Brugger, Larissa Seiffert, Cajetan Bittkau und Christoph Koch vorgenommen und nach verschiedenen Kriterien, wie sprachliche Klarheit, Einsatz von Stilmitteln und inhaltliche Konsistenz die drei besten Kurzgeschichten ausgewählt – ebenfalls anonym.
Wer hinter den drei Gewinnergeschichten steckt, konnten am 20. Dezember alle bei der Preisverleihung erfahren, bei der auch die drei Geschichten vorgelesen wurden. Auf Platz drei landetet Hanna aus der 12D mit ihrer Geschichte „Was bedeutet für dich fliegen?“. Mit dem zweiten Platz zeichnete die Jury die Geschichte „Es ist nur mein Vater“ von Mariel aus der 12C aus. Über den ersten Platz durfte sich Lucy aus der 12A für ihre Geschichte „Der Abgrund“ freuen. Für alle Preisträgerinnen gab es Frühstücksgutscheine.
Die Gewinnergeschichte können Sie im Folgenden lesen.
Der Abgrund
Es ist 8:20 Uhr und dir ist warm. Zu warm. Eine Schweißperle bahnt sich ihren Weg von deinem Nacken, in den Kragen deines Mantels und weiter deinen Rücken hinunter. Deine Nase läuft, es ist kalt draußen, und du bist immer noch etwas außer Atem. Hättest du früher gewusst, dass das Meeting von 8.30 Uhr auf 9 Uhr verlegt wurde, hättest du dich nicht so beeilen müssen und wärst jetzt auch nicht so schlecht gelaunt. Aber du wusstest natürlich nicht früher davon, denn dir hat ja niemand Bescheid gesagt. Warum auch? Du bist schließlich neu und unbekannt. Die Sekretärin konnte dich von Anfang an nicht leiden, also warum sollte sie dir von einer läppischen halben Stunde Verschiebung im Zeitplan berichten?
Du nimmst den Kaffee, den du bestellt hast und den dir die Frau an der Theke entgegenstreckt, dankbar an, bezahlst und versuchst so schnell wie möglich zum Ausgang zu kommen. Du schiebst dich vorbei an einem älteren Herrn, mehreren Schülern und müden Eltern, bis du endlich die Tür erreicht hast und aus dem heißen, überfüllten Café, hinaus in die Januarkälte treten kannst. Die Straße ist trotz der Kälte voller Leute, die nach den Feiertagen bereits wieder zur Arbeit müssen oder ihre ungewollten Geschenke so schnell wie möglich umtauschen möchten. Auf der grünen Bank am Rande des Stadtparks ist aber zum Glück noch ein Platz frei. Direkt neben dem alten Mann mit der seltsamen Mütze. Du weißt nicht wie er heißt, obwohl ihr immer miteinander redet, wenn ihr euch wie heute begegnet, du weißt nur, dass er immer hier zu sein scheint und jeden Tag die Menschen beobachtet, die an dem großen Loch in der Mitte der Kreuzung vorbeigehen,
beziehungsweise, dass er die Menschen beobachtet, die eben dies nicht machen. Du setzt dich neben ihn und schaust auch zu. Das Loch wirkt auf dich größer als sonst, das innere dunkler. Löcher wie dieses gab es schon immer, nur sind sie heute vielleicht bekannter. Zumindest sollten sie das sein, aber wenn du dir die Menschen so anschaust, die achtlos vorbeigehen, bist du dir dessen nicht so sicher. "Gestern waren es acht" sagt der alte Mann neben dir. "Im Winter sind es immer mehr als sonst." Du schaust nicht auf. Eine Frau in einer roten Jacke läuft an dir vorbei. Sie sieht den Abgrund nicht. Auch nicht als sie direkt davor steht. Sei geht weiter geradeaus, ohne sich umzuschauen. Sie merkt nicht, dass sie längst über den Rand des Loches getreten ist und fällt. Sie fällt langsam, so als könnte sie sich jeden Moment umdrehen und zurück laufen. Du hast den alten Mann einmal gefragt, warum er den Menschen nicht hilft, die er jeden Tag hineinfallen sieht. "Warum hilfst DU ihnen nicht?", war seine Antwort. Ja, Warum nicht? Ausreden wie: "Ich kenne sie nicht.", "Ich weiß nicht wie". Wenn andere über die Löcher reden, hörst du oft, dass sie nur die Augen öffnen müssten. Dass sie dann sehen würden, dass sie zurückgehen müssen. Aber du weißt, es ist nicht so einfach. Sie wissen schließlich nicht, dass sie fallen. Warum sollten sie sich also retten?